Erdöl war die treibende Kraft der Industriegesellschaft und hat unsere Lebensweise auf unumkehrbare Art verändert. Aber der Spaß wird bald sein Ende haben, warnt New-Internationalist-Redakteur
Mit einem riesigen Schritt gelingt es mir, den Fuß auf die erste Stufe zu bekommen. Danach ist es ein Kinderspiel. Die Metalltreppe führt zur Führerkabine des größten Lastwagens meines Lebens – ein Ungeheuer aus Stahl. Vor mir setzt sich Dorothy Voyageur, eine junge Frau aus Fort Chipewyan, ans Steuer. Dorothy arbeitet in den Athabasca Oil Sands im Nordosten des kanadischen Bundesstaats Alberta, einer wüstenartigen, vegetationslosen Landschaft, die sich weit in die Ferne zieht. Zitterpappeln, Schwarzpappeln und Schwarzfichten wurden genauso weggeschabt wie die Erde, um an den dunklen, klebrigen, erdöldurchtränkten Sand heranzukommen, der sich darunter verbirgt.
Hier liegt eine unglaubliche Menge Erdöl begraben. Glaubt man dem Alberta Energy and Utility Board, einer unabhängigen Agentur der Provinzregierung, dann gibt es in dem fast 78.000 Quadratkilometer großen Gebiet mehr als 300 Milliarden Barrel „förderbaren“ Bitumens (dickes, zähes Öl). Hier wird nicht nach Öl gebohrt, es wird abgebaut – mit riesigen Schaufeln, die bis zu 100 Tonnen fassen. Die dickflüssige, teerähnliche Substanz wird aus dem Sand ausgewaschen und in einem mehrstufigen Verfahren gereinigt, um schließlich in Erdöl umgewandelt zu werden.
Dorothy arbeitet für Suncor, den ersten Betrieb in der Region. Das Unternehmen investiert gerade 1,8 Milliarden US-Dollar, um seine Produktionskapazität bis 2002 auf 225.000 Barrel pro Tag zu steigern. Syncrude, der andere und größere der beiden Pioniere im Geschäft, ist ein Joint venture von Akteuren wie ExxonMobil, Gulf und Petro-Canada. Mit Investitionen von 5,1 Mrd. Dollar soll die Produktion bis 2008 auf rund 470.000 Barrel pro Tag verdoppelt werden. Insgesamt wollen Dutzende Firmen in den nächsten zehn Jahren 21 Mrd. Dollar investieren. Dann könnte beinahe die Hälfte des kanadischen Erdöls aus dem Ölsand Albertas gewonnen werden.
Die Preise sind hoch, und damit auch die Gewinne. Mit Höchstgeschwindigkeit pumpt die Branche fossile Brennstoffe südwärts, in den scheinbar unersättlichen Magen des US-Markts. 1998 wurde beinahe ein Drittel der gesamten kanadischen Energieproduktion in die USA geliefert, und mit der jüngsten Energiekrise in Kalifornien haben die Exporte neuerlich drastisch zugenommen. „Unternehmen in Alberta tragen derzeit praktisch kein Explorationsrisiko. NAFTA [das Nordamerikanische Freihandelsabkommen, Anm. d. Red.] garantiert einen Exportmarkt, egal, wie viel sie produzieren“, sagt der Energieexperte Larry Pratt. „Der Zweck von NAFTA ist die Steigerung der Produktion. Ein weiser oder vorsichtiger Umgang mit unseren Ressourcen wird dadurch nicht gefördert.“
Nichts, was die neue US-Regierung unter George W. Bush sonderlich bekümmern würde. Mit seinen engen persönlichen Verbindungen zum Ölgeschäft (sein Vater scheffelte seine Ölmillionen im Osten von Texas) und seinem Kabinett, in dem sich engstirnige Erdölfans um den Platz streiten, hat er Energie zu einem zentralen Thema seines politischen Programms gemacht, den begehrlichen Blick sowohl auf Mexiko wie Kanada gerichtet. Denn in den USA leben zwar nur fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber die sind ziemlich hungrig nach Energie – sie verschlingen ein Viertel des weltweit geförderten Rohöls, mehr als die Hälfte davon wird importiert. Die eigenen Reserven gehen seit 30 Jahren zurück, und das Land hat bereits mehr als zwei Drittel davon verbraucht.
Trotz neuerschlossener Quellen wie dem Ölsand in Alberta und den Offshore-Lagerstätten in Mexiko wird der Großteil des Erdöls nach wie vor von der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) kontrolliert. Und die Dominanz der OPEC wird in den kommenden 20 Jahren zunehmen, sagt die Internationale Energieagentur (IEA) in Paris: Im Jahr 2020 wird die OPEC 54 Prozent des Erdöls liefern – heute sind es 40 Prozent. Gleichzeitig wird die Nachfrage in den reichen Ländern sprunghaft zunehmen, und allein Chinas Erdölbedarf wird auf elf Millionen Barrel pro Tag steigen – mehr als eine Verdoppelung.
Alles das beruht natürlich auf der Annahme, dass die Energiepreise nicht in den Himmel steigen. Darauf wetten sollte man aber nicht. Schließlich ist Erdöl das Herz der Industriegesellschaft, der Lebensnerv des Wirtschaftswachstums. Sein Einfluss ist so umfassend und grundlegend, dass wir kaum einen Gedanken darauf verschwenden, wie abhängig wir von ihm sind. „Es gibt keinen Ersatz für Energie. Das gesamte Gebäude der modernen Gesellschaft ruht darauf (…)“, schrieb E. F. Schumacher, der visionäre Autor von „Small is Beautiful“, vor 40 Jahren – Energie „ist nicht ‚bloß ein Rohstoff unter anderen‘, sondern die Voraussetzung aller Rohstoffe, ein grundlegender Faktor von gleicher Bedeutung wie Luft, Wasser und Land.“
Das ist ein zentrales Problem, denn Erdöl ist kein erneuerbarer Energieträger. Es wird nicht mehr, nur weniger. Doch die Ölkonzerne sehen keinen Grund, ihre hektische Explorationstätigkeit zu bremsen. Während Arbeitsplätze gestrichen und Standorte „rationalisiert“ wurden, bewegte sich der Ölpreis zuletzt um die 30 Dollar pro Barrel, ein seit Jahrzehnten unerreichtes Niveau. Die Folge war ein kräftiger Anstieg der Gewinne. Letztes Jahr erzielte ExxonMobil mit 17,72 Mrd. Dollar den höchsten Unternehmensgewinn in der Geschichte der USA.
Kommen die alten Zeiten wieder? Bis in die 70er-Jahre, als die OPEC die Kontrolle übernahm, hatten die großen internationalen Ölkonzerne, bekannt als die „sieben Schwestern“, den Erdölhandel fest im Griff. Und nach wie vor sind es staatliche Unternehmen in Saudi-Arabien, Mexiko, Venezuela, im Iran und anderswo, die die Zügel in der Hand halten – die zehn größten nationalen Erdölgesellschaften kontrollieren 70 Prozent der weltweiten Reserven. Doch heute, begünstigt durch ein dereguliertes Handels- und Investitionsregime, ist „Big Oil“ wieder dabei, seine Macht zu festigen. Aus den sieben wurden vier: ExxonMobil, BPAmoco, Royal Dutch/Shell und ChevronTexaco, einige der mächtigsten Unternehmen der Welt. Und ihre Rückkehr ans Ruder wird nach Kräften von den eifrigen Wasserträgern der weltweiten wirtschaftlichen Integration unterstützt: vom Internationalen Währungsfonds, von der Weltbank und der Welthandelsorganisation.
Hochverschuldete Länder im Süden, gezwungen zu strukturellen „Anpassungsprogrammen“, verkaufen nationale Erdölunternehmen und vereinbaren mit den Erdölmultis ein gemeinsames Projekt nach dem anderen. Etwa haben Argentinien und Bolivien in den letzten Jahren ihre staatlichen Erdölgesellschaften verkauft. Und BPAmoco, Shell, ExxonMobil, Agip und TotalFinaElf haben sich mit der staatlichen Erdölgesellschaft in Kasachstan zusammengetan, um im Kaspischen Meer nach Öl zu bohren. Mit seinen acht Mrd. Dollar Auslandssschulden ist der frühere Sowjetstaat ein schwacher und williger Partner.
Die Konzerne stecken Millionen in die Exploration und schneiden seismische Explorationslinien genauso durch entlegene Regenwälder wie durch die arktische Tundra. Bei ihrem Vorstoß in ökologisch verwundbare und entlegene Rückzugsgebiete nehmen die Konzerne ebenso selten Rücksicht auf lokale Kulturen wie auf die Menschenrechtsbilanz der jeweiligen Regierungen. In einem Land nach dem anderen wird „Big Oil“ zum Kristallisationspunkt der allgemeinen Unzufriedenheit [siehe Seite 32ff]. Und das zu Recht. Regierungen, ob auf nationaler oder Provinzebene, sind geradezu hypnotisiert von der Aussicht auf den Reichtum, der sich mit dem „Schwarzen Gold“ so einfach erzielen lässt. Die Zahl der Länder, die Explorationsprogramme durchführen, hat sich in den 90er-Jahren verdreifacht. Korruption, Gier und Misswirtschaft sind die übliche Konsequenz, und wer profitiert, ist letztlich nur eine kleine Elite.
Nigeria ist ein berüchtigter Fall. Erdöl dominiert die nationale Wirtschaft, stellt 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und liefert 90 Prozent der Regierungseinnahmen. Korruption ist weit verbreitet, und die gesamte Industrie beschäftigt gerade einmal zwei Prozent der Bevölkerung. Die Ijaw und Ogoni sagen, die Erdölexploration habe ihr Land vergiftet und ihre Lebensgrundlagen zerstört. Ihrem Widerstand begegnete das Militär mit systematischer Unterdrückung und Terror. Überall im Süden haben auf Erdöl beruhende Entwicklungsstrategien eine Spirale aus Schulden und Abhängigkeit ausgelöst. Und die Kapitalintensität der Erdölexploration führte dazu, dass andere Entwicklungsziele vernachlässigt wurden.
Was diese zerstörerische Exploration aber nicht hintanhalten kann, ist das Unvermeidliche – den „Big Rollover“, wie ein Experte des US-Bundesamts für Geowissenschaften dazu sagt: Der Punkt, an dem die Nachfrage nach Erdöl die Produktionskapazität übersteigt. Mehr als 800 Milliarden Barrel Öl wurden verbrannt, seit das Erdölzeitalter vor 150 Jahren im US-Bundesstaat Pennsylvania begann. Aber alle großen Entdeckungen wurden bereits gemacht. Der angesehene Geologe Colin Campbell verwies auf diese Knappheit im Sommer 1999, als er verblüfften britischen Abgeordneten erklärte: „Die Erdölunternehmen der ganzen Welt finden derzeit nur ein Barrel Erdöl für vier Barrel, die wir verbrauchen.“ Die Erdölförderung in der Nordsee habe ihren Höchststand erreicht; in Venezuela, der früheren Sowjetunion, Mexiko und Norwegen sei er bereits überschritten. Saudi-Arabien werde den kritischen Punkt in weniger als zehn Jahren erreichen. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich die Kluft zwischen abnehmenden Reserven und zunehmendem Verbrauch auswirken werde. Campbell meint, es werde den Welterdölmarkt etwa um 2005 erwischen, wenn die Reserven um etwa drei Prozent pro Jahr zurückgehen. Wenn dann erdölsüchtige Länder beginnen, sich um ihre Anteile zu raufen, dürfte es haarig werden. Einen Vorgeschmack darauf bekamen wir bereits in den letzten Jahren: Der Zugang des Westens zum Erdöl in Kuwait war der Hauptgrund für den Golfkrieg. Und der mit 1,3 Mrd. Dollar finanzierte „Plan Colombia“ der USA, der angeblich den Kokainhandel des Landes lahm legen soll, hat mehr mit Erdöl zu tun als mit Drogen. Kolumbien wurde von einem blutigen Bürgerkrieg verwüstet, und der Ölreichtum steht im Zentrum der Gewalt.
Im Mai 1997 erschien ein Bericht des Weißen Hauses zur nationalen Sicherheitspolitik, der den Zugang zum Erdöl der Hemisphäre zum „lebenswichtigen Interesse“ erklärte – ein Schritt mit wesentlichen Implikationen, wie der Militärexperte Michael Klare versichert. „Ist eine Erdölquelle einmal zu einem ‚lebenswichtigen Interesse‘ erklärt, ist es Aufgabe Washingtons, die langfristige Sicherheit dieser Versorgung zu gewährleisten. Was in der Vergangenheit darauf folgte, waren oft direkte militärische Interventionen der USA oder die Bereitstellung von Militärhilfe an befreundete Regierungen.“
So muss es aber nicht ablaufen. Es existieren zwingende und dringliche Gründe, mit unserer Abhängigkeit vom Erdöl jetzt Schluss zu machen. Der Hauptgrund ist der Klimawandel. Trotz energischer Bemühungen, die Öffentlichkeit eines anderen zu belehren, können die Ölkonzerne und ihre Fürsprecher (und die Bush-Regierung ist ein Schlüsselverbündeter) nicht ignorieren, dass das Verbrennen von Erdöl, Kohle und Erdgas die Hauptursache für den Klimawandel ist. Wie Greenpeace und andere gezeigt haben, lässt sich die „Kohlenstofflogik“ nicht außer Kraft setzen. Selbst wenn wir nur ein Viertel der bekannten Reserven verbrennen, führen wir eine Klimakatastrophe herbei. Drei Viertel des gesamten noch vorhandenen Erdöls müssen im Boden bleiben, um den Planeten für zukünftige Generationen zu bewahren. Dazu ist ein rascher Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und ein Wechsel zu umweltfreundlichen, sicheren und erneuerbaren Energieträgern erforderlich.
Worauf es aber vor allem ankommt, ist der zeitliche Ablauf. Berücksichtigt man, dass die Weltwirtschaft in den nächsten 20 Jahren auf das Doppelte anwachsen dürfte, werden wir den panischen Kampf um schwindende Reserven eher früher als später erleben. Wenn wir uns nicht jetzt um Alternativen kümmern, werden wir nicht nur das Klima ruinieren – auch der Übergang wird weit schwieriger und zerstörerischer sein.
Nach einer Schätzung des Politikexperten David Fleming wären 25 Jahre „der absolute Mindestzeitraum, um die europäische Energiewirtschaft auf erneuerbare Energieträger umzustellen“. Um aus dem Erdöl aussteigen zu können, muss jedoch ein umfassendes Programm entwickelt werden: Alles muss auf den Prüfstand, angefangen von den Autoemissionen über den erschwinglichen öffentlichen Verkehr bis zur Stadterweiterung und zur Macht der Unternehmen. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Der Einsatz ist hoch. Es geht nicht nur um die Bewahrung des Ökosystems Erde, sondern auch um den Charakter der menschlichen Gesellschaft in den nächsten Jahrhunderten.
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